Modelle der Leiterschaft
Forschung und Lehre an der Theologischen Hochschule Friedensau

  • Modelle der Leiterschaft

    Modelle der Leiterschaft:
    Forschung und Lehre an der Theologischen Hochschule Friedensau

     

    Dr. László Szabó

     

    Die Tatsache, dass sich Gemeinden permanent verändern, macht es für Führungspersonen in unserer Freikirche immer wieder notwendig, über Fragen der Leiterschaft nachzudenken. Dabei gilt es insbesondere, mögliche und notwendige Veränderungen zu erwägen und umzusetzen. Wenn wir zudem den weiteren gesellschaftlichen Kontext in Betracht ziehen und signifikante demographische und gesellschaftliche Transformationen, technologische Fortschritte und die anhaltende Globalisierung beachten, werden wir wahrscheinlich zur selben Schlussfolgerung kommen wie die Experten des World Economic Forum: Dass nämlich tiefgreifende soziale Veränderungen neue Modelle für Leiterschaft verlangen1. Auch Lynda Gratton kommt durch ihre Analyse des historischen Kontextes und Megatrends des modernen Managements zu der Schlussfolgerung, dass unser Arbeitsleben in den nächsten 20 Jahren dermaßen anders wird, dass nichts mehr wiederzuerkennen bleibt und dies von Führungspersonen wesentliche Veränderungen verlangt2. Woher kommen aber die Impulse für eine Veränderung der Leiterschaftsmodelle in unserer Freikirche? Die Fülle an Literatur und Forschungen über die Themen „Leitung und Management“ ist verwirrend, insbesondere für den, der auf Grund eines christlichen Menschenbildes nicht rein leistungs- und ergebnisorientiert arbeiten kann und möchte. Welche Impulse sind für uns hilfreich?

    In diesem Artikel werden Beobachtungen und Forschungsergebnisse präsentiert, die Anregungen für die Weiterentwicklung von Modellen für Leitung liefern. Die ersten sind durch Training von Studenten in Leiterschaft entstanden. Außerdem liefert auch eine Analyse von Bekehrungen zur Adventgemeinde in Deutschland und in der Schweiz3 weitere wichtige Informationen über den Kontext, in dem Prediger und Führungskräfte in unserer Freikirche arbeiten.

    Im Rahmen von Kursen zum Thema Leiterschaft gestalte ich seit Jahren an verschiedenen adventistischen Hochschulen Trainings, die mit Gruppenaufgaben verbunden sind. Studierende arbeiten in Teams, wobei Kompetenzen für Führung präsentiert, wahrgenommen und weiterentwickelt werden. Durch zufällige Auswahlverfahren werden mehrere Studenten ausgewählt und geheim darum gebeten, sich bei den ersten Trainingsaufgaben so zu verhalten, dass sie in der letzten Runde von der Gruppe durch einen demokratischen Wahlprozess zum Gruppenführer ernannt werden. Sobald die Gruppenarbeit beginnt, müssen die ausgewählten Studierenden Fertigkeiten und ein überzeugendes Modell für die Leitung präsentieren, um die Gruppe von ihrer Kompetenz zu überzeugen. Sehr gut zu erkennen ist, dass Studierende auf Modelle für Leitung zurückgreifen, die bei erfolgreichen Vorbildern beobachtet oder erlebt wurden.

    Dies bestätigt die These von Hans Finzel, dass Leitung am meisten durch beobachtete und erlebte Modelle gelernt wird4. Diese klassischen Modelle beinhalten z.B. Schritte wie das Ergreifen von Initiativen, um der Gruppe dabei zu helfen, Ziele zu erreichen, die aktive Koordination der Gruppenarbeit, Gesprächsleitung bei der Erarbeitung von möglichen Problemlösungen, und Moderation von demokratischen Prozessen in der Gruppe.

    Unabhängig davon, wie erfolgreich Führungskandidaten diese Schritte durchführten, wurden sie seit mehr als zehn Jahren in diesen Kursen nicht von ihrer eigenen Generation als Leiter gewählt. Es gab nur eine Ausnahme: Wenn die Aufgabe während der Teamarbeit mit einer bereits vorhandenen Leitungsrolle in der Gruppe stark übereinstimmte, wurden Personen als Leiter gewählt. In den anderen Fällen achteten Studierende viel stärker auf soziale Kompetenzen, auf Empathie, auf die Fähigkeit, Beziehungen managen zu können, und auf den Beitrag zu einer ausgeglichenen, konstruktiven Atmosphäre. Demgemäß wurden Personen zu Leitern gewählt, auch wenn sie keine anderen klassisch von Führungspersönlichkeiten erwarteten kognitiven Leistungen erbracht haben. Bei der Auswertung der Trainingsaufgaben ist eindeutig gewesen, dass Jugendliche andere Modelle für Leitung bevorzugen, als sie in der Gemeinde erlebt und beobachtet haben. Allerdings sind sie meistens noch nicht imstande, diese bewusst und reflektiert einzusetzen. Der Grund dafür mag sein, dass beobachtete Modelle für Leitung in den Gemeinden noch von älteren Paradigmen geprägt sind.

    Die Leitungs-Forscherin Rebecca Shambaugh betont, dass allein in den letzten zehn Jahren so umfassende Veränderungen in der Gesellschaft passiert sind, dass Leitungsmodelle der Vergangenheit nicht mehr zum Erfolg führen. Nach ihrer Forschung ist heute viel mehr Kreativität, Zuhören und emotionale Intelligenz notwendig5. Ähnliches hatte Daniel Goleman im Harvard Business Review bereits 1999 in einem Artikel über die Bedeutung emotionaler Intelligenz publiziert6. Er untersuchte die Kompetenzmodelle in 188 Firmen und verglich drei Bereiche miteinander: 1. Technisches Know-How; 2. kognitive Fähigkeiten (IQ); 3. emotionale Intelligenz (EQ). Golemans qualitative Analyse führte zu dem überraschenden Ergebnis, dass kognitive Fähigkeiten zwar sehr wichtig seien, aber die emotionale Intelligenz auf allen Organisationsebenen eine doppelt so große Rolle spielt wie die beiden anderen Bereiche zusammen. Dies zeigt dieselbe Sehnsucht nach Verständnis, Empathie, guter Atmosphäre, authentischen Leiter mit Charakter, wie dies auch bei den Studenten sichtbar wurde – also einer stärkeren Menschen- als einer Ergebnisorientierung.

    Die Analyse von Bekehrungen zur Adventgemeinde in den letzten Jahren liefert zu demselben Thema außerdem kirchenspezifische Erkenntnisse. Leitung heißt Einfluss: Die Untersuchung von über 900 Bekehrungen im deutschsprachigen Raum zeigen, dass Prediger als Führungspersonen einen sehr starken Einfluss auf die Glaubensentwicklung und auf die Entscheidungen der Getauften hatten. 64,7% der Antworten sagen aus, dass bei der Bekehrung der Prediger eine wichtige Rolle gespielt hat. Bei Personen ohne christlichen Hintergrund betrug der Prozentsatz sogar 70,8. Bei der Frage nach den endgültigen Impulsen zur Taufentscheidung nannte 60,1% dieser Gruppe den Prediger.

    Wodurch üben geistliche Leiter so einen starken Einfluss aus? Für 69% derer, die ohne jeglichen christlichen Bezug aufwuchsen, war die emotionale Begleitung durch den Prediger als Ansprechpartner entscheidend wichtig. Die Antworten zeigen, dass Menschen in ihrem Bekehrungsprozess durch den Dienst der Prediger den Glauben so lebensnah vermittelt bekamen und Inhalte so verstehen konnten, dass sie auch mit ihrem Alltagsleben viel zu tun hatten. Dies geschah aber nicht vor allem durch Predigten und besondere Veranstaltungen, sondern durch das persönliche Bibelstudium mit dem Prediger (74,8%). Dies übertrifft auch den diesbezüglichen Einfluss begleitender Geschwistern bei weitem. Die Menschen fühlten sich vom Prediger ernstgenommen (87,7%), das Gespräch mit ihm gab ihnen Hoffnung (85,3%), war interessant (85%) und von persönlicher Bedeutung (74,9%), und alle Lebensbereiche waren davon betroffen (69,2%). Wachstumsbereiche sind für die Prediger laut Rückmeldungen die Folgenden: nur 31,8% empfanden die persönlichen Gespräche als empathisch, 53,4% als christozentrisch, und 44,1% wenig moralisierend. Demgemäß wird anscheinend wesentlich mehr Empathie erwünscht, und Entscheidungen sollten mit weniger moralischen Druck begleitet, aber mit mehr Schritten zur persönlichen Beziehung zu Christus gestaltet werden.

    Insgesamt lässt sich schlussfolgern: Modelle für Leitung sind notwendig, die das Wahrnehmen und Verstehen von Gefühlen ermöglichen, das persönliche Wachstum zur Selbständigkeit im Glauben hin fördern und die Freiheit zu eigenen Entscheidungen aufbauen.

     

    1 Das World Economic Forum hat dafür das „Global Agenda Council on New Models of Leadership 2012–2014“ ins Leben gerufen. Demnach erfordert ein neues Führungsmodell von Führungskräften die Unterstützung von Menschen, damit sie sich vom „Egosystem-Denken“ (Erzeugung vom Wohlbefinden einer engen Interessengruppe) hin zu einem „Ecosystem-Denken“ (Wohlbefinden des gesamten) bewegen. Siehe: http://www.weforum.org/content/global-agenda-council-new-models-leadership-2012-2014

    2 Lynda Gratton, The Shift: The Future of Work is Already Here, HarperCollins Business, 2011.

    3 Diese Analyse von Bekehrungen wurde unter der Leitung des IKU-Instituts, ein An-Institut der Theologischen Hochschule Friedensau, in Zusammenarbeit mit dem Arthur-Daniells-Institut für Missionswissenschaft erstellt und mit Unterstützung der beiden deutschen Verbände der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten durchgeführt. N = 913 (Die Daten beruhen auf insgesamt 913 Personen)

    4 Hans Finzel, The Top Ten Mistakes Leaders Make, David C. Cook, 2007.

    5 http://www.huffingtonpost.com/rebecca-shambaugh/can-your-current-leadersh_b_1440607.html

    6 Sein Aufsatz über das Thema wurde von den Herausgeber als einer der „10 must-read articles of all time“ gewählt. Daniel Goleman, „What Makes a Leader?“, Harvard Business Review, November–Dezember 1998, 93–102.


     
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