Kämpfe nicht wie einer, der in die Luft schlägt
Der Beitrag der Wissenschaft zum Gemeindeaufbau

  • Kämpfe nicht wie einer, der in die Luft schlägt

    Kämpfe nicht wie einer, der in die Luft schlägt

    Der Beitrag der Wissenschaft zum Gemeindeaufbau

    Dr. László Szabó

     

    Die Stille des Bürotages ist vorbei. Das Telefon klingelt und die Nummer des Anrufenden ist unbekannt. Als Pastor bereite ich mich in Sekunden auf alle möglichen und unmöglichen Verläufe vor: Trauerfall, jemand in Not, Stadtverwaltung… Ich werde aber doch mächtig überrascht: „Hier ist das Sekretariat der arabischen Gesellschaft,“ leitet eine freundliche Stimme die Einladung zur nächsten Versammlung als Gastredner ein. Die Teilnehmer sind Botschafter, Journalisten, Professoren und Geschäftsleute aus islamischen Ländern. Das Thema für meinen Vortrag darf ich frei wählen. Sie möchten einfach unsere Welt, unseren Glauben, unser Denken kennenlernen.

     

    Diese spannende Herausforderung ließ eine Reihe von Fragen über Kultur, Sprache und Religion entstehen. Als ich nach intensiver Vorbereitungszeit zur Veranstaltung ging, ahnte ich noch nichts von den weitgehenden Folgen dieser Einladung: weitere Vorträge, private Mahlzeiten und ein offener Austausch, der auch einige von der Gesellschaft zum Besuch der Adventgemeinde führte.

     

    Die Begegnung mit anderen Kulturen und mit Lebenswelten, die von den unseren abweichen, erfordert Demut, Neugier, Fleiß und vertrauenswürdige Quellen für relevante Information. Die Theologie braucht Ergänzung: Wir müssen immer häufiger die Sozialwissenschaften zur Hilfe holen, um über Verhaltensweisen anderer und Phänomene des gesellschaftlichen Zusammenlebens Auskunft zu erhalten.

     

    Vor Jahrhunderten bestand die Welt aus isolierten Gesellschaften, die voneinander kaum etwas wussten. Die meisten Menschen waren nur mit ihrer eigenen Kultur beschäftigt und kamen mit ihr gut zurecht. Der Rest der Welt wurde ignoriert oder war wenig bekannt. Große Wandlungskräfte haben die Welt jedoch inzwischen mächtig umgestaltet und treiben die Veränderungen weiter voran. Fremde Lebenswelten kommen uns nahe, aber auch die Menschen des eigenen Ortes erscheinen oft fremd. Gesellschaftliche Megatrends gehen auch an den Kirchen nicht spurlos vorbei. Es reicht, an die Herausforderung der heranwachsenden Generation zu denken, deren Umgang mit Medien die Eltern zuweilen zur Verzweiflung treibt. Wenn die Gemeinde als Licht der Welt dienen möchte, muss sie die Lebenswelten der Menschen mit all ihren Hoffnungen, Ängsten und Bedürfnissen verstehen lernen.

     

    Was treibt den Wandel in der Welt an?

    Einige Megatrends sind offensichtlich – wie zum Beispiel das Bevölkerungswachstum. Die Weltbevölkerung erreichte ca. 1800 die erste Milliarde. Für die zweite Milliarde brauchte man 100 Jahre. Heutzutage wächst die Bevölkerung alle 12 bis 15 Jahre um eine Milliarde Menschen weiter1. Das schnelle Wachstum zusammen mit wachsender Mobilität und Globalisierung verändert wesentliche Bereiche des Lebens: Welthandel, Reisefreiheit und schnell wachsende interkulturelle Vielfalt. Damit unterschiedliche Kulturen und Wertesysteme friedlich nebeneinander leben können, legt man immer mehr Wert auf Pluralismus und Toleranz. Wie könnten denn sonst Hunderte von unterschiedlichen Kulturen auf engem Raum friedlich zusammenleben?

     

    Das meiste Wachstum geschieht in Städten. In 1900 lebten weltweit etwa 5,5% der Menschen in Städten, heute dagegen über 50%2. Die Urbanisierung ändert die Formen der Kommunikation und Vernetzung grundlegend und lässt Konnektivität zum Megatrend werden3. Digitale Kommunikationstechnologien und Social-Media-Plattformen gestalten soziokulturelle Prozesse entscheidend neu. Die Liste der Megatrends könnte noch mit Individualisierung, Digitalisierung, Algorithmisierung und weiteren lange fortgesetzt werden. In der sich verändernden Welt ist nur eins beständig: die Suche nach Orientierung.

     

    Kämpfe nicht wie einer, der in die Luft schlägt

    Die Zeiten sind in Westeuropa vorbei, wo die Gemeinde mit einer vorformulierten Botschaft bequem auf die Besucher erwarten konnte. Der Blick muss immer mehr nach außen gerichtet wenden. Es ist unmöglich, unterschiedliche Menschen in einer bunten Gesellschaft auf die gleiche Art und Weise mit dem Evangelium zu erreichen. Paulus verstand seine christliche Freiheit als Möglichkeit, das Evangelium zielgruppenrelevant zu gestalten. Begegnete er Juden, Menschen mit gegensätzlicher Beziehung zum Gesetz, schwachen oder sonstigen Personen – sein Ansatz lautete: „Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um an ihm teilzuhaben.4

     

    Der Ansatz des Paulus mag herausfordernd erscheinen, denn hier sind Vielseitigkeit, Offenheit, Lernbereitschaft und Ausdauer gefragt. In seinen folgenden Worten wird es klar, warum sein Ansatz auch heute noch relevant ist: „Ich aber laufe nicht wie aufs Ungewisse; ich kämpfe mit der Faust, nicht wie einer, der in die Luft schlägt.5“ Spätestens wenn unsere Bemühungen in der heutigen Gesellschaft wie ein Schlag in die Luft erscheinen, wenn wir ergebnislos, aber unendlich beschäftigt sind und wenn uns unsere Ressourcen ausgehen, dann müssen wir anhalten und über unsere Methoden und Relevanz in der Gesellschaft nachdenken. Auch Ellen White fordert die Gemeinde auf, ihre Arbeit sorgfältig zu planen: „Gott hat jedem Menschen einen Verstand gegeben. Gott wünscht, dass er zur Ehre Gottes eingesetzt wird. So wird der Mensch befähigt mit Gott zusammenzuarbeiten, um andere Menschen zu retten… Wir sollten jede Denk- oder Körperkraft ausbilden und trainieren …, die Jesus erkauft hat – um sie so gut wie möglich nutzen zu können.6

     

    Die Gefahr des Schubladendenkens

    Wenn etwas zu komplex erscheint, entwickeln wir eine Neigung zur Vereinfachung. Repräsentative Befragungen und wissenschaftliche Beobachtungen liefern Information über Phänomene des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Tendenzen und Präferenzen werden aufgespürt und oft kategorisiert. Wir schaffen endlich Überblick. Dabei sollte man aber sorgfältig auf das Risiko achten, dass Schubladendenken in allen Bereichen des Lebens vorkommt. Jedes Individuum entwickelt sich mit eigenen Werten und Zielen eigenständig; deswegen ist die persönliche Begegnung, das Zuhören und Verstehen-wollen immer noch unersetzlich in dem Dienst an Menschen. Dies kann uns keine Wissenschaft ersparen.

     

    Identitätsbildende Faktoren

    Neben unserer individuellen Persönlichkeit beeinflussen auch andere Faktoren unsere Identität, unser Weltbild und die Art, wie wir unsere soziokulturelle Welt gestalten. Solche Faktoren können unter anderem kulturelle Prägung, soziale Lage, normative Grundorientierung und Alter sein. Wenn wir im Dienst für bestimmte Zielgruppen auf diese Faktoren achten, können wir vermeiden, dass Missverständnisse entstehen, durch die wir unsensibel, dominant oder irrelevant erscheinen können.

     

    Die kulturelle Prägung beeinflusst, welche moralischen Gefühle das Handeln der Menschen bestimmen. Die Missionswissenschaft unterscheidet dabei drei Kulturtypen7. Die Schuld-Unschuld-Kulturen sind individualistisch geprägt und sind eher in den westlichen Ländern vorzufinden. Menschen werden schuldig betrachtet, wenn sie das Gesetz brechen. Unrecht soll durch Wiedergutmachung oder Vergebung beglichen werden. Scham-Ehre-Kulturen dagegen sind meist in östlichen Ländern anzutreffen. Ihre kollektivistische Prägung definiert Moral durch Beziehungen und nicht durch abstrakte vordefinierte Normen. Die Erwartung der eigenen Gruppe ist ausschlaggebend. Die Angst-Macht-Kultur wird durch die Annahme unsichtbarer übernatürlicher Kräfte bestimmt.

     

    Begegnet man fremden Kulturen, kann man viel von Erkenntnissen der Kulturanthropologie profitieren. Aber auch im eigenen Kulturkreis lauern Herausforderungen. Verschiedene Milieu-Modelle, wie das bekannte der Sinus-Milieus, und wissenschaftliche Alternativen gruppieren die Menschen anhand von unterschiedlichen Klassifikationsmerkmalen wie soziale Lage, Grundorientierung, Bildung, alltagsästhetische Schemata und Habitus. Im Dienst an Menschen, die in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise von uns abweichen, kann auch die Gemeinde von solchen Forschungsergebnissen profitieren. Wir fühlen uns am meisten im eigenen Milieu zu Hause; müssen wir zu einem anderen Brücke schlagen, brauchen wir Orientierung.

     

    Auch im Gemeindeleben kann das Zusammenleben verschiedener Generationen eine echte Herausforderung darstellen. Zwar entwickelt sich jedes Individuum eigenständig, aber prägende Generationserlebnisse wie Krieg, Wirtschaftskrisen, der Internetboom und die Digitalisierung können Einfluss auf ganze Geburtsjahrgänge haben. Anhand von Hauptmerkmalen versucht man daher heute, Jahrgänge in Generationen einzuteilen und intergenerationale Differenzen festzustellen: so unterscheidet man etwa die Babyboomer und die Generationen X, Y und Z. Spätestens wenn die Gemeinde im Kampf gegen Handynutzung der Teens versagt, erkennt sie die Notwendigkeit, sich selber und die neuen Generationen mehr verstehen zu lernen und die Hilfe der Medienpädagogik in Anspruch zu nehmen.

     

    Zwar können die Sozialwissenschaften nicht alle Probleme lösen, aber sie können einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis und zu den möglichen Lösungsansätzen liefern, wenn man kultur-, milieu- oder generationsübergreifend arbeitet und nicht ständig in die Luft schlagen möchte.

     

    1 https://www.berlin-institut.org/online-handbuchdemografie/bevoelkerungsdynamik/wachstum-der-weltbevoelkerung.html

    2 https://www.laenderdaten.de/bevoelkerung/urbanisierung.aspx

    3 https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrend-konnektivitaet/

    4 Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (1984); 1. Korinther 9,22-23.

    5 1. Korinther 9,26.

    6 Ellen White, Selected Messages, Band I. p.100.

    7 Jayson George, Mit anderen Augen: Perspektiven des Evangeliums für Scham-, Schuld- und Angstkulturen, Neufeld, 2018.


     
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